Unsere Autorin erlebt einen Tag in der Mutter-Kind-Station in Herten:
Ergotherapie wird zur "Baby-Lesestunde"
Im Kinderzimmer warten Ernie und Bert geduldig auf ihre kleinen Spielkameraden. Draußen senkt sich die Mittagshitze eines Sommertags über den Weiher des Hertener Schlossparks. Krankenschwestern, Therapeutinnen und die Praktikantin der Mutter-Kind-Station in der Hertener Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie genießen die Ruhe: "Endlich schlafen die Zwerge!" Während die Babies in ihren angenehm kühlen, abgedunkelten Räumen schlummern, nehmen die Mütter an verschiedenen Therapien teil: Bewegungstherapie, Gesprächsgruppen, Kunsttherapie. An ein Krankenhaus erinnert hier kaum etwas. Alle Räume sind hell und wohnlich eingerichtet, Therapie- und Spielzimmer strahlen eine fröhliche Wärme aus.
Wir starten unseren Rundgang durch die Mutter-Kind-Station
Wir wollen die Babies, deren Mütter hier in Herten stationär behandelt werden, nicht wecken, und starten unseren Rundgang durch die Mutter-Kind-Station. So wie es Mütter und Angehörige oftmals tun, die Hilfe bei den Experten der Hertener Klinik suchen. Weil sich die Mutter nach der Geburt des Babies plötzlich nicht über ihr Kind freuen kann, grundlos Ängste und Panikattacken erleidet, aus nichtigen Gründen in Tränen ausbricht, womöglich mit dem Gedanken spielt, sich oder dem Kind etwas anzutun.
"Wenn bei uns Betroffene anrufen, dann laden wir die Mütter mit allen, die von der Krise betroffen sind, zu einem ersten Kennenlernen unserer Station ein", erklärt Dr. Luc Turmes, Leiter der Mutter-Kind-Einheit im WZPP Herten. Das können Väter, Großeltern, Freundinnen und Freunde der Frauen sein. Der Kennenlern-Rundgang hat zwei Funktionen: In erster Linie bauen sowohl Mütter als auch Angehörige Ängste ab. Denn schnell wird im Kontakt mit den verständnisvollen Mitarbeitern deutlich: Hier befinde ich mich in einem geschützten Raum, ohne eingesperrt zu sein. Hier kümmern sich Experten um mich, ohne mir die Verantwortung für mein Kind zu entziehen. Hier habe ich die Chance, meine Rolle als Mutter zu lernen, und werde doch selbst auch noch ein wenig bemuttert.
Auf der anderen Seite erfahren Ärzte und Therapeuten bei diesem ersten Besuch viel über die Situation der Familien. Gibt es Väter, Geschwister, Omas oder Freundinnen, die sich in der ersten akuten Phase um das Baby kümmern können? Wie gehen die Angehörigen mit der Krise der Mutter um? Das Team der Mutter-Kind-Station fällt nach dem ersten Telefon-Kontakt eine Reihe von wichtigen Entscheidungen – mit einem für das deutsche Gesundheitssystem rasantem Tempo. In der Regel innerhalb von zwei bis drei Tagen bekommen die Betroffenen den Erst-Termin. Hier wird geklärt, wo das Baby in der ersten Woche, in der die Mutter meist eine besonders intensive Betreuung benötigt, versorgt wird. Kann der Vater sich kümmern? Springt die Oma ein? Oder soll die Sozialarbeiterin der Klinik eine Haushaltshilfe vermitteln? Die erste The-rapiesitzung mit der Mutter entscheidet in der Regel darüber, ob eine ambulante oder eine stationäre Behandlung notwendig ist, ob Medikamente eingesetzt werden müssen oder ob eine Gesprächstherapie ausreicht.
Bunte Stofftiere, Puppen, Rasseln - der Ergo-Therapie-Raum
Wir machen Halt im Ergo-Therapie-Raum. Ob stationäre oder ambulante Behandlung, neben dem Einsatz von Medikamenten und den Gesprächstherapien ist die non-verbale Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper von großer Bedeutung. Während der Ergo-Therapie lernen die Mütter, sich zu entspannen und die neuen Signale, die der Körper nach einer Geburt sendet, zu verstehen.
Bunte Stofftiere, Puppen, Rasseln, Kleinkinder-Spielgeräte. Auch für die Arbeit gemeinsam mit dem Kind bietet der Raum alle Möglichkeiten. "Die körperliche Nähe zu den Babies, die gemeinsame Bewegungsarbeit wird hier quasi zur Baby-Lesestunde", sagt Dr. Luc Turmes. Ist erst einmal die Brücke zum Kind über Streicheln, Massieren oder Babyturnen geschlagen, fällt es den Müttern auch bald leichter, ihr Baby im Alltag zu verstehen. Warum schreit es? Hat es die Hose voll? Oder schiebt es Kohldampf?
Zur Zeit gibt es fünf Mutter-Kind-Therapieplätze in Herten. Der Bedarf ist jedoch weitaus größer. Aber da jeder Fall von der Klinik mit 2.000 EUR bezuschusst werden muss, weil die Krankenkassen bei einer Erkrankung der Mutter das Rooming-in des Kindes und die therapeutische Förderung der Mutter-Kind-Beziehung nicht bezahlen, besteht momentan nicht die Möglichkeit, die Station zu erweitern. Doch Herzstück des von Luc Turmes und seinem Team verfolgten Behandlungskonzepts ist die gemeinsame Therapie mit Mutter und Kind. Nach ein bis zwei Wochen stationärem Aufenthalt ohne Kind, in denen die Mütter erst einmal wieder zu sich selbst finden, werden auch die Babies aufgenommen. Dann lernen die Mütter tagsüber, sich ihrem Kind immer weiter zu nähern. Nur nachts kümmert sich das Pflegepersonal um die kleinen Schreihälse. Denn eines ist erwiesen: Eine ausgewogene Nachtruhe fördert die Genesung der Mütter.
Der Förderverein BEI ALLER LIEBE, hartnäckige Überzeugungsarbeit der Ärzte bei den Kassen und Mittel von Sponsoren sollen es in der Zukunft ermöglichen, weitere Behandlungsplätze zu schaffen. Dann kann das Mutter-Kind-Team auch seinen Plan verwirklichen, in ein eigenes Haus auf dem Klinikgelände zu ziehen.
Traumfänger über dem Kinderbett
Bei unserem Rundgang durch den Schloss-Park in Herten, in dem die Klinik liegt, schauen wir uns die zukünftige Mutter-Kind-Station schon einmal an. Das Gebäude bietet Platz für großzügige Wohneinheiten für Mutter und Kind, für Spiel-, Therapie- und Gemeinschaftsräume. Die Außenanlagen mit Terrassen, Wiesen und Grillplatz eröffnen alle Möglichkeiten, ein Klinikleben zu schaffen, in dem die Kommunikation zwischen Müttern, Babies und Betreuungspersonal ohne "Krankenhausatmosphäre" gefördert wird.
Zurück auf der jetzigen Mutter-Kind-Station: Aus den Kinderzimmern tönt das erste Babyweinen. Tim* (Name geändert) ist wach. Und er hat Hunger. Seine Mutter hat bereits die Flasche erwärmt und hebt Tim aus seinem Kinderbett. Darüber hängt ein Mobile als "Traumfänger", das seine Mutter in der Kunsttherapie gefertigt hat - auch eine non-verbale Auseinandersetzung mit der Mutterrolle. Tims Mutter füttert den Kleinen. Mit dabei ist eine Betreuerin von der Station. Wie selbstverständlich plaudert sie mit der jungen Mutter. Als wäre sie eine Freundin, die zu Besuch ist. Lange wird es nicht mehr dauern, da braucht Tims Mutter auch diesen geschützten Raum nicht mehr. Dann wird sie ihr Kind zu Hause selbstständig versorgen können. Dann hat sie gelernt, wie das geht – Mutter sein.